Anlaufstellen für Hausarbeiterinnen in Bolivien
Kann eine Zitrone geliehen werden?
Grosse Farbfotografien von Luca Zanetti sind am 1. Juni im Dachgeschoss des cheesmeyer aufgestellt und sorgfältig beleuchtet: Sie zeigen Hausarbeiterinnen in Bolivien. Der Flügel wurde gestimmt und der Pianist Laurent Nicoud freut sich darauf, das Instrument zu spielen. Die Autorin Maria Magdalena Moser beginnt mit ihrer Lesung. Ausschnitte aus Vorwort und verschiedenen Biografien von Hausangestellten. Heimweh, Ausbeutung, Erniedrigung, Verzweiflung und hin und wieder Wertschätzung. «Du kannst das». Wir lernen, was es heisst, eine Zitrone auszuleihen, wir hören von einer Frau, die zur Adoption freigegeben wurde, ihre Eltern wieder fand und von ihnen nicht angenommen wurde. Und ihr blieb ein Lächeln auf dem Gesicht, trotz allem. Wie ist das möglich? Die Vorlesende unterbricht ihre Lesung, schaut zum Pianisten und dieser legt los, improvisiert, wird eins mit dem Flügel, erzählt die Geschichten weiter, setzt ihnen etwas entgegen, wird mit seinen Läufen eindringlich, ja aufdringlich, um am Schluss alles wieder aufzulösen.
Dann hört eine Frau auf zu arbeiten, weil ihr Kind gedemütigt wird von der Señora. Ein anderes Kind muss immer allein oben in einem Dachzimmer sein, während die Mutter unten Hausarbeiten erledigt. Kaum zum Aushalten. Das Kind wird später ein Einzelgänger, spricht kaum mit einem anderen Menschen. Und dann wieder das Piano, ausgehend von einem Fis erzählt es wie das Leben auch hätte sein können, kämpft und besänftigt, unterstützt und spricht dazu in seltsamen Geräuschen und verliert ganz bewusst den Zusammenhang, wie das Mädchen, das sich nicht erinnern kann, woher es kommt.
Das Hin und Her zwischen Lesung und Klavierspiel wird immer intensiver. Wir bewegen uns in verschiedenen Biografien von bolivianischen Hausangerstellten, denen Maria Magdalena Moser eine Stimme gibt. Wir sind beeindruckt von dieser Arbeit. Die Kälte auf dreitausend Meter Höhe und die
Kolibris sind schon weg und die Tasten werden bedient, als ob feine Kältekugeln in der Luft schwebten. Wir stellen uns vor, wie der jährige Sohn allein im Zimmer herumkrabbelt, wir sehen das Mädchen vor uns, das vor lauter Heimweh das Bett nässt und dafür bestraft wird. Das Piano wird, wenn es sich denn von seinem selbstgemachten Geflecht wieder zu befreien vermag, abgelöst vom Geläut der katholischen Kirche. Den Vögeln bleibt etwas Luft für ihre Gesänge, bis die Autorin weiter ins Mikrophon spricht, und wir Zuhörende merken immer deutlicher, dass alles, was sie uns schildert, angereichert ist von Erfahrungen und direkten Beziehungen zu den von ihr beschriebenen Bolivianerinnen. Der Pianist Laurent Nicoud gibt dem Abend einen seltsamen Glanz zwischen Eindringlichkeit und Verspieltheit. Einfach nur grossartig.
Zurück bleibt eine warme, herzliche Stimmung. Wir sind bestärkt im Versuch zu kämpfen für menschen- und naturwürdige Verhältnisse. Im Respekt gegenüber dem Zitronenbaum und jenen, die froh sind, von jemandem eine Zitrone geliehen zu bekommen.
Kaspar Geiger